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FUTURE CARE

Innovative Wege einer nachhaltigen, leistbaren, inklusiven und hochwertigen Pflege für eine alternde Gesellschaft

Programm / Ausschreibung Expedition Zukunft, Expedition Zukunft 2022, Expedition Zukunft Start 2022 Status laufend
Projektstart 14.02.2024 Projektende 31.01.2025
Zeitraum 2024 - 2025 Projektlaufzeit 12 Monate
Keywords gesellschaftspolitische Herausforderung, Innovation, hybrides Pflegesystem, Telemedizin, co-kreative Prozesse

Projektbeschreibung

Angesichts einer alternden Gesellschaft wird eine massive Zunahme von Pflege- und Unterstützungsbedarf prognostiziert. Das aktuelle Pflegesystem bringt eine hohe Kosten- und Arbeitsbelastung mit sich, erfordert einen hohen Ressourceneinsatz und ist zudem auf die Arbeitsleistung pflegender Angehöriger angewiesen. Letzteres führt auch dazu, dass Spitalsaufenthalte notwendig werden, da Angehörige und gepflegte Personen in der Pflegesituation zuhause überfordert sind. Die Arbeitsbelastung und der tendentiell steigende Mitarbeiter:innenbedarf führen zudem dazu, dass viele Menschen den Pflegeberuf aufgeben oder meiden.
Auf diese absehbaren Entwicklungen soll mit der Entwicklung eines innovativen Pflegesystems geantwortet werden mit dem Ziel, die Pflege zuhause leistbar, niederschwellig zugänglich bzw. inklusiv und dennoch qualitativ hochwertig und ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltig zu machen. Dazu werden Entwicklungen im Bereich der Organisation mobiler Pflege durch multiprofessionelle Teams und die Möglichkeiten der Digitalisierung, technischer Pflegeassistenzsysteme sowie von Telecare-Ansätzen aufgegriffen und kombiniert.

Dazu werden die Positionen und Perspektiven aller Stageholder:innen mittels diskursanalytischer Ansätze analysiert. In Workshops mit allen Stakeholder:innen und darauf aufbauend in einem iterativen, co-kreativen Prozesses sollen nachhaltige innovative und visionäre Konzepte einer zukünftigen Pflege gemeinsam mit allen Stakeholder:innen in einem unabhängigen und neutralen Setting erarbeitet werden. Der Fokus des Projekts liegt auf der Kombination mobiler und hybrider Pflegeformen unter Einbindung professioneller und freiwilliger (Laien-)Pfleger:innen. Damit sollen insbesondere die Personalressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am effektivsten sind und am meisten zum Wohlbefinden und zur Lebensqualität der gepflegten Personen beitragen: in der persönlichen Beziehung zwischen Patient:innen, Angehörigen und dem Pflegepersonal. Das Projekt will auf diesem Weg Entwicklungspfade und Rahmenbedingungen einer künftigen Pflege entwerfen und Wege der Umsetzung aufzeigen. Die Ergebnisse stellen die Basis für ein kooperatives F&E Projekt dar.

Abstract

The demographic fact that we are living in an aging society implies that a massive increase in the need for care and support is predicted. The current care system entails high costs and workloads, is highly ressource-intensive and also relies on the labor of caregiving relatives. The latter also leads to hospital stays becoming necessary as relatives and cared-for persons are overwhelmed in the care situation at home. In addition, the workload and the trend toward an increasing need for staff are causing many people to give up or avoid the nursing profession.

The aim is to respond to these foreseeable developments by developing an innovative care system with the goal of making care at home affordable, accessible and inclusive, yet of high quality and economically, ecologically and socially sustainable. To this end, developments in the organization of mobile care by multiprofessional teams and the possibilities of digitalization, technical care assistance systems and telecare approaches will be taken up and combined.

To this end, the positions and perspectives of all stakeholders will be analyzed using discourse-analytical approaches. In workshops with all stakeholders and based on the results in an iterative, co-creative process, sustainable, innovative and visionary concepts of future care will be developed together with all stakeholders in an independent and neutral setting. The focus of the project is on the combination of mobile and hybrid forms of care with the involvement of professional and voluntary (lay) caregivers. The aim is to use human resources where they are most effective and contribute most to the well-being and quality of life of the people being cared for: in the personal relationship between patients, relatives and caregivers. In this way, the project aims to design development paths and framework conditions for future care and to show ways of implementation. The project-results will be used for a cooperative R&D project.

Endberichtkurzfassung

Einleitung

Vor dem Hintergrund einer Zunahme von Pflege- und Unterstützungsbedarf aufgrund einer alternden Gesellschaft stößt das bestehende Pflegesystem zunehmend an seine strukturellen und personellen Belastungsgrenzen. Die gegenwärtige Versorgungssituation ist nicht nur durch hohe Kostenintensität und hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet, sondern bleibt in überwiegendem Maße auf die informelle Sorgearbeit pflegender Angehöriger angewiesen.

Das Projekt Future Care adressiert diese Herausforderungen durch die Entwicklung von Ideen für ein innovatives, nachhaltigkeitsorientiertes Pflegemodell, das auf eine leistbare, zugängliche und qualitativ hochwertige Versorgung im häuslichen Setting abzielt.

Die Entwicklungsperspektiven werden diskursanalytisch entlang der Perspektiven relevanter Stakeholder:innen erschlossen und in einem iterativen, co-kreativen Prozess mit diesen weiterentwickelt. Im Zentrum steht ein hybrides Pflegeverständnis, das professionelle, informelle und freiwillige Pflegeakteur:innen integriert und mit Technik kombiniert. Personalressourcen sollen strategisch dort eingesetzt werden, wo sie relational und qualitativ den höchsten Mehrwert generieren: in der unmittelbaren pflegerischen Interaktion.

Durch qualitative (interaktive) Zugänge werden die Perspektiven, Werthaltungen, Herausforderungen und Visionen für eine zukünftige Sorgekultur von unterschiedlichsten Stakeholder:innen qualitativ erhoben und umfassend analysiert.

Perspektive von Pflege Betroffenen

Bei von Pflege Betroffenen zeichnet sich ein zentrales analytisches Spannungsfeld ab. Es lässt sich als Gegensatzpaar zweier idealtypischer Deutungsmodi rekonstruieren, die sich auf die Weise beziehen, in der Pflegebedürftigkeit subjektiv erfahren, verarbeitet, vergesellschaftet und in ein individuelles Lebensnarrativ eingebettet wird. Diese beiden Modi lassen sich als kontrastive Bezugspunkte entlang einer interpretativen Achse zwischen Defizitorientierung und proaktiver Gestaltungsorientierung beschreiben. Zu berücksichtigen ist, dass es sich bei diesen beiden Perspektiven um idealtypische Konstruktionen handelt, die in der Realität in vielfältigen Mischformen vertreten sind , jedoch analytisch trennscharf als distinkte Orientierungen sichtbar gemacht werden.

Die erste Perspektive, die deutlich häufiger verbreitet ist, ist geprägt von einer internalisierten Wahrnehmung der eigenen Pflegebedürftigkeit als Verlust von Selbstwert, Kontrolle und gesellschaftlicher Teilhabe . Pflege erscheint hier primär als Ausdruck von Abhängigkeit , die mit Scham und Rückzug verbunden ist. Die eigene Rolle wird vor allem passiv verstanden – als Objekt institutioneller Versorgung, nicht als Subjekt proaktiver Mitgestaltung . Der Blick auf Pflege bleibt dementsprechend reaktiv, defensiv und defizitbezogen .

In der anderen idealtypischen Gruppe wird Pflegebedürftigkeit nicht als Schwäche, sondern als veränderter Lebensmodus verstanden, der aktive Auseinandersetzung und Gestaltung verlangt . Die Betroffenen begreifen sich als selbstbestimmte Expert:innen ihres Alltags und fordern eine systematische Mitsprache in Versorgungsentscheidungen ein. Pflege erscheint als Ermöglichungsstruktur für ein selbstbestimmtes Leben, das von Beziehungen, Unterstützung und Wertschätzung geprägt ist. Abhängigkeit wird nicht tabuisiert, sondern als Teil sozialer Interdependenz anerkannt. Diese Perspektive ist proaktiv und selbstbestimmt .

Auch die Zukunftsvisionen unterschieden sich stark. Während die Visionen aus einer defizitorientierten Perspektive vorrangig auf Sicherheit und Schutz im Sinne von institutioneller Verlässlichkeit sowie auf einen Rückzug aus sozialen Netzwerken geprägt sind, fokussieren sich gestaltungsorientierte Zukunftsvorstellungen auf Selbstbestimmung, proaktiver Co-Creation und sozialer Teilhabe . Beide Perspektiven eröffnen unterschiedliche Erwartungshorizonte gegenüber pflegerischer Praxis und institutionellen Strukturen – und verweisen zugleich auf das Spannungsfeld zwischen institutioneller Fürsorge und subjektiver Autonomie im Kontext von Sorgearbeit.

Perspektive von pflegenden Angehörigen

Pflegende Angehörige nehmen eine zentrale, jedoch oft institutionell marginalisierte Rolle im österreichischen Pflegesystem ein. Ihre Sorgepraxis ist stark relational fundiert und orientiert sich an ethischen Grundprinzipien wie Empathie, Verantwortung und dem Erhalt von Autonomie .

Pflege wird von Angehörigen primär als Ausdruck persönlicher Verbundenheit und moralischer Verpflichtung verstanden. Dabei stehen drei zentrale Werthorizonte im Vordergrund: (1) die Autonomie der betreuten Person , (2) das sinnstiftende Moment sozialer Eingebundenheit und (3) eine Care-Ethik , die Fürsorge nicht als Pflicht, sondern als dialogisches Geschehen interpretiert.

Trotz dieser starken Werteorientierung berichten pflegende Angehörige von einer Vielzahl struktureller Belastungen . Dazu zählen psychische Überforderung , fehlende zeitliche und finanzielle Ressourcen , mangelnde Schulungsangebote und ein Gefühl gesellschaftlicher Isolation. Kritisch wird die Organisation der 24-Stunden-Betreuung empfunden, die Angehörige in eine unklare Rolle zwischen Verantwortung und Kontrolle bringt.

Die Visionen der pflegenden Angehörigen sind vielschichtig und lassen sich in fünf Themenbereiche zusammenfassen (1) Wissen (Informationen möglichst aus einer Hand für alle Schritte im Pflegeprozess, Empowerment, Angebote usw.; (2) Individualität (Anpassung der Pflegeleistung auf individuelle – ökonomische, soziale, geografische, bauliche Situationen); (3) Gemeinschaft (Leben in einer sorgenden (posttraditionalen) Gemeinschaft; (4) Entlastung (besonders Angehörige brauchen Entlastungsstrukturen, um Urlaub zu machen und sich zu regenerieren; (5) weitere konkrete Visionen beziehen sich auf den Aufbau eines Sorge-Netzwerks, solidarische Finanzierung, gerechte und adäquate Einstufung des Pflegebedarfs sowie Hilfe zur Selbsthilfe (Empowerment).

Perspektive der professionellen Pflegekräfte

Professionelle Pflegepersonen verfügen über ein elaboriertes berufsethisches Selbstverständnis. Pflege wird als ethisch fundierte Beziehungspraxis verstanden, die weit über bloße Durchführung medizinischer Maßnahmen hinausgeht.

Pflegekräfte sehen sich als Begleiter:innen in existenziellen Situationen . Sie plädieren für ein Pflegeverständnis, das Therapietreue, Kommunikation und partizipative Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt stellt. Dabei betonen sie die Notwendigkeit, sich von hierarchischen und medizinisch dominierten Strukturen zu emanzipieren.

Der häufige Widerspruch zwischen professionsethischem Anspruch und organisationaler Realität ist ein zentrales Problem . Pflegepersonen erleben strukturelle Überlastung, geringe Autonomie, unzureichende interprofessionelle Zusammenarbeit und eine Kultur des Ausschlusses. Die Folge ist moralischer Stress – ein Zustand, der oft zur Erschöpfung und Berufsausstieg führt.

Auch Vertreter:innen aus Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufen formulieren vielfältige Reformimpulse für ein zukunftsfähiges Pflegesystem , das neben gesellschaftlichem Umdenken auch strukturelle Innovationen erfordert. Sie fordern einen gesellschaftlichen Kulturwandel im Umgang mit Alter und Pflegebedürftigkeit, eine präventionsorientierte Versorgungspolitik und die Anerkennung von Sorgearbeit als gesamtgesellschaftlicher Aufgabe . Pflege soll nicht defizitorientiert sein, sondern als tragende soziale Infrastruktur verstanden werden, die Teilhabe, Selbstbestimmung und gemeinschaftlich getragene Verantwortung ermöglicht. Wesentlich sind der Auf- und Ausbau gemeindenaher Unterstützungsstrukturen , inklusive Community Nurses, die Stärkung interprofessioneller Zusammenarbeit , eine systematische Professionalisierung pflegerischer Bildung sowie eine Neugewichtung hin zu präventiven und mobilen Versorgungsformen .



Fazit

Das Projekt Future Care zielt auf die Entwicklung eines innovativen, inklusiven und nachhaltig gestaltbaren Pflegemodells , das dem absehbaren Anstieg an Unterstützungsbedarf in einer alternden Gesellschaft adäquat begegnen kann. Die Ergebnisse der empirischen Analyse der Perspektiven von Pflegebetroffenen, pflegenden Angehörigen, professionellen Pflegekräften und weiteren Stakeholder:innen bestätigen die Relevanz dieser Zielsetzung, verweisen jedoch auf die Grenzen eines rein systemorientierten Lösungsansatzes . Unterstützungsbedarf ist keine universelle, standardisierbare Erfahrung, sondern eine zutiefst individuelle Lebenslage – geprägt durch Biographie, soziale Teilhabe, Wertorientierungen, Vulnerabilitäten und Ressourcen.

Pflege muss daher nicht nur effizient, zugänglich und strukturell abgesichert sein, sondern die Einzigartigkeit der betreuten Person mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Wünschen und Vorstellungen als unumstößlichen Ausgangspunkt jeder Sorgebeziehung ernst nehmen. Die Entwicklung eines tragfähigen Pflegesystems darf nicht in dem Versuch münden, allen in gleicher Weise gerecht zu werden, sondern muss Räume schaffen, in denen Differenz, Individualität und situative Passung ermöglicht werden. Ein System, das Gleichbehandlung mit Gleichförmigkeit verwechselt, läuft Gefahr, genau jene relationalen Qualitäten zu unterminieren, die Pflege erst sinnvoll und menschlich machen.

Die Studie zeigt deutlich: Zukünftige Pflegepolitik muss zwischen struktureller Verlässlichkeit und individueller Anschlussfähigkeit vermitteln . Nur wenn sich institutionelle Lösungen an der Vielfalt subjektiver Lebensentwürfe orientieren, können sie tatsächlich gerecht, wirksam und würdig sein. Future Care legt dafür ein konzeptionelles Fundament, das die relationale Dimension von Pflege mit technologischen, organisatorischen und sozialen Innovationen in produktive Verbindung setzt – ohne dabei den Menschen in seiner unverwechselbaren Besonderheit aus dem Blick zu verlieren.

Eine proaktive, gesundheitsförderliche und präventiv ausgerichtete Sorgekultur muss zum Selbstverständnis werden, denn der bislang dominierende Fokus auf Defizitorientierung und Reaktion (individuell und institutionell) verstellt den Blick auf das immense Potenzial frühzeitiger Interventionen, sozialraumorientierter Prävention und individueller Gesundheitskompetenz. Proaktivität bedeutet jedoch nicht, dass jeder einzelne alleine für seinen Gesundheitszustand verantwortlich gemacht wird, denn das würde Schuldzuweisungen und soziale Ungleichheit begünstigen. Eine proaktive, gesundheitsförderliche und präventiv ausgerichtete Sorgekultur bedeutet ermöglichende Strukturen, sodass Menschen durch die Angebote, Netzwerke und politische Rahmenbedingungen in die Lage versetzt werden, ihr Leben möglichst lange selbstbestimmt und gesund zu gestalten.

Ein zukunftsgerichtetes Pflegesystem setzt ein erweitertes Altersbild voraus, das Altern als gestaltbaren Lebensabschnitt mit eigenen Potenzialen anerkennt . Die Reproduktion defizitorientierter Altersvorstellungen führt zur Marginalisierung von Handlungsspielräumen und schwächt präventive Zugänge strukturell.

Future Care plädiert daher für ein normatives Reframing von Altern : Altern muss als sozial eingebettete, relationale und entwicklungsfähige Lebensphase mit politischer Verantwortung, institutioneller Sensibilität und einer Kultur der Anerkennung verstanden werden, die älteren Menschen Selbstbestimmung und gesellschaftliche Sichtbarkeit zuschreibt.

Die im Rahmen des Projekts formulierten Visionen und Lösungsideen weisen auf zentrale Entwicklungsachsen hin: die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Kulturwandels im Umgang mit Alter, Pflege und Abhängigkeit; der Aufbau gemeindenaher, präventiv ausgerichteter und hybrid organisierter Versorgungsstrukturen; die strukturelle Anerkennung und Ermöglichung professioneller Pflegeautonomie sowie die Integration technischer und digitaler Lösungen in eine sorgesensible, beziehungsorientierte Versorgungspraxis.

Future Care leistet somit einen wesentlichen Beitrag zur theoretischen Fundierung, partizipativen Entwicklung und praxisnahen Gestaltung einer Pflegezukunft, die den Prinzipien sozialer Gerechtigkeit , relationaler Verantwortung und institutioneller Ermöglichung verpflichtet ist. Die Zukunft der Pflege ist nicht nur eine Frage von Ressourcen , sondern eine Frage der Kultur . Eine Kultur, die Sorge nicht abwertet, sondern ermöglicht. Eine Kultur, in der Betroffene, Angehörige und Pflegepersonen proaktiv mitgestalten.